Der Herzensknacker

Humoreske von Teo von Torn.
in: „Indiana Tribüne” vom 14.04.1905


Es gibt eine Seelenstimmung, die so unklar, zerfahren und widerspruchsvoll ist, daß man sich selber in ihr nicht auskennt. Ein Philosoph aus dem Volke hat diese Stimmung einmal in die Worte gekleidet: „Ich habe so'n Durscht, daß ich nicht weiß, wo ich vor Hunger schlafen soll — so friert mich.”

Rittmeister von Plath war um drei Uhr von seinem Besuche bei seinem Oheim, dem Domänenrath Hirsekorn auf Saatwinkel, heimgekehrt — und um fünf Uhr saß er immer noch auf der von blutrothem wilden Wein umsponnenen Veranda seiner Wohnung, völlig im Unklaren darüber, ob er sich krank melden, eine halbe Flasche weißen Portwein trinken, eine längere Reise unternehmen, einen steyrischen Jodler riskiren oder mit seinem Armeerevolver sich todtschießen solle.

Was ihm begegnet war, das hatte er nicht erwartet. Kein Mensch hätte es erwartet, der den Rittmeister von Plath kannte und seine unfehlbare Sieghaftigkeit.

Er war abgefallen — — abgefallen bei seiner eigenen Cousine in einer Herzenssache, wie sie Erich von Plath herzlicher und ernsthafter in seinem ganzen Leben nicht gemeint. Er hatte einen dicken Strich gezogen unter die vielen, mehr oder minder belasteten Conti jenes Schuldbuches, das Gott Amor als Hauptbuchhalter geführt; er hatte sogar damit angefangen, einige Wechsel zu bezahlen, anstatt sie prolongiren zu lassen —, eine Thatsache, die für seinen Bankier beinahe verhängnißvoll geworden wäre. Sally Bromberger hatte eine krampfartige Maulsperre bekommen. Ja, der Rittmeister von Plath hatte es sogar über sich gewonnen, seiner allerersten wahren Liebe ein ziemlich umfassendes Geständniß abzulegen — theils weil ihn Herz und Gewissen dazu gedrängt, theils auch, weil es immer praktisch ist, einiges selbst zu gestehen, als alles von anderer Seite zutragen zu lassen.

Gerade davon, daß er Magda Hirsekorn rückhaltlos sein Herz und dessen bisherige Fehler offenbart, hatte er sich Bedeutendes versprochen. Er war ordentlich selbst ergriffen gewesen von seiner tapferen Wahrhaftigkeit. Er hatte sich geläutert gefühlt, frei von aller Schuld und würdig, das reizendste, blondeste, liebenswertheste Mädchen sein nennen zu dürfen. Daß dieses Mädchen ihn liebte, wußte er. Er hätte nicht Erich von Plath sein müssen, um das nicht zu merken. Wenn sich zwischen seine Reisepläne und den Armeerevolver auch das anscheinend deplacirte Bedürfniß drängte, seinem Herzen durch einen Jodler Luft zu machen, so geschah das eben in jener beseligenden Gewißheit. Als er heute auf Saatwinkel eingetroffen war, hatte ihr Händchen in seiner Rechten gezittert, und ihr warmer, leuchtender Blick hatte seine guten Vorsätze gefestigt und zur Reife gebracht. Als er dann aber seine Bekenntnisse vollendet und im Anschluß daran die große Frage an sie gerichtet, hatte sie sich abgewandt und nein gesagt — ein so ungeduldiges, herbes, gereiztes „Nein!”, daß er kein Wort mehr gefunden und im Leichenträgertempo mit seinen so jäh gestorbenen Hoffnungen nach Hause geritten war.

Er war nicht einmal zum Abschied ins Schloß gegangen. Er wollte Niemand mehr sehen — und er hatte auch Niemand gesehen, als Liddie Hirsekorn, seine jüngere, fünfzehnjährige Cousine. Sie hatte an jener Stelle gestanden, wo das Parkgatter sich auf die Chaussee öffnete, hatte den Zeigefinger gegen die Stirn gedrückt und ihm etwas zugerufen, was sich wie Hammel oder Kameel angehört.

Auch diese merkwürdige Abschiedspantomime drängte sich in den Kreis seiner verzagten Erwägungen. Was hatte der quecksilberne Backfisch, mit dem er sich sonst vortrefflich stand, damit gemeint? Ein an die Stirn gelegter Zeigefinger drückt bei den Tungusen ebenso wie bei den Mitteleuropäern den Verdacht der Verrücktheit aus. Hatte er etwas gethan, was diesen Verdacht rechtfertigte —? Ein wilder Grimm packte ihn. All das Grübeln und Sinnen, die Rathlosigkeit und Zerfahrenheit der letzten Stunden drängte nach einem Ausdruck [oder etwa besser: Ausbruch? D.Hrsgb.] Er warf die Reitpeitsche auf den Tisch und preßte beide Fäuste gegen die Schläfen.

„Ja — bin ich denn verrückt?” knirschte er laut vor sich hin.

In demselben Moment ließ er die Arme sinken und sprang auf.

„Complett —” hatte eine Stimme mit ruhiger Ueberzeugung geantwortet. Gleichzeitig raschelte es in dem rothen Laube, und Liddie Hirsekorns pfiffiges Gesicht schob sich durch die Blätter. Während sie sich mit der einen Hand an der Brustwehr der Veranda festhielt, strich sie mit der andern das lose Haar aus der Stirn und nickte dem Verdutzten freundlich zu.

„Guten Tag, lieber Vetter — — hilf mir mal, bitte, erst hier herüber, dann will ich Deine Frage an das Schicksal eingehender beantworten. — So — — vielen Dank.”

An der Hand des Rittmeisters war sie mit einem Sprunge auf der Veranda. Sie schüttelte das Haar aus dem Nacken und warf sich unter glucksendem Auflachen in den nächsten Korbsessel.

„Wo kommst Du her?” fragte der Rittmeister, immer noch völlig consternirt.

„Von Saatwinkel natürlich. ich habe Dir doch beim Abschied einige Honneurs gemacht —”

„Wofür ich Dir die Ohren schrauben werde. Wie kannst Du auf offener Straße Hammel hinter mir herrufen?”

„Das habe ich nicht gethan.”

„Ich hab's gehört!”

„Da hast Du mich entschieden mißverstanden, Ich habe Kameel gesagt, und dazu hatte ich meine Gründe. Wir wollen uns aber darum nicht zanken, Vetter. Ich kann nur wenige Minuten bleiben. Der Josef ist zur Post gefahren und soll mich auf dem Rückwege hier abholen. Wir müssen also die Zeit nützen — —”

„Wer schickt Dich?”

„Niemand. Wer soll mich schicken? Mein edles Herz schickt mich. Magda braucht schon das dritte Dutzend Taschentücher, und Papa ist wüthend —”

„Auf wen —”

„Auf Dich natürlich. Weil er schon hundert Flaschen Sekt zur Verlobung bestellt hat und weil nun aus der Geschichte nichts werden soll, da Du ein unverbesserlicher Aufschneider und Renommist bist.”

Des Rittmeisters Stirn röthete sich.

„Mein liebes Kind,” sagte er ernst, „unsre verwandtschaftlichen und freundschaftlichen Beziehungen gestatten es wohl, daß wir uns gelegentlich im Scherze zoologische Namen beilegen — wie Du das vorhin wieder gethan hast. Was Du da aber soeben bemerktest, geht doch etwas zu weit. Du weißt weder, was Du sprichst, noch worum es sich handelt!”

„Mein lieber Vetter,” erwiderte die Kleine, indem sie seinen ernsten Ton drollig nachäffte, „ich weiß beides. Ich weiß überhaupt alles. Um es kurz zu machen, werde ich Dir das sofort klarlegen. In den fünf Monaten, seit Papa Saatwinkel übernommen hat, bist Du ständiger Gast bei uns. Daß Du wöchentlich drei-, auch vier- und fünfmal herauskommst, um Papas friesische Ackerpferde zu besehen oder Dir einen Vortrag über Lupinen als Zwischenbau halten zu lassen, hat mir gleich nicht eingeleuchtet. Ich war die erste, die es gemerkt hat, daß Du es auf Magda abgesehen hast. Bald darauf muß es auch Magda gemerkt haben —, denn jedesmal, wenn Du kommen solltest, hatte sie Fieber, und wenn Du weggegangen warst, mit dem Versprechen, morgen wiederzukommen, hat sie mir immer einen fürchterlich heftigen Kuß gegeben. Zuletzt hat es sogar Papa gemerkt. Umständlich, wie Väter in solchen Sachen sind, hat er sich hier in der Stadt nach Dir erkundigt.”

„Ach du himmlische Güte — —”

„Ja, das kannst Du ihm aber nicht verdenken. Trotz der nahen Verwandtschaft kennen wir uns doch eigentlich erst seit ein paar Monaten. Was er vorher von Dir gewußt, schien nicht das Beste zu sein. Jedenfalls hat er unter der Hand verschiedene Deiner Kameraden ausgeholt. Auch bei Herrn Bankier Bromberger hat er sich erkundigt —”

„Allmächtiger —!” stöhnte der Rittmeister, indem er sich schwerfällig in einen Sessel niederließ und den entsetzten Blick in die vergnügt zwinkernden Schalksaugen der Kleinen bohrte. „Na, und — —?”

„Du bist der beste, solideste und ordentlichste Mensch.”

Der Rittmeister schluckte ein paar mal heftig, dann brauste er auf:

„Und Du bist eine dumme Gans, die sich schlechte Witze mit mir erlaubt!”

Liddie Hirsekorn war nicht empfindlich. Sie lachte hell auf und trommelte vor Entzücken mit beiden Fäustchen auf ihre Knie. Dann warf sie mit einer raschen Bewegung des Kopfes die Haare in den Nacken und bestätigte vergnügt:

„Thatsache. Der beste, solideste und ordentlichste Mensch. Alle haben's gesagt. Trotzdem aber hatte Papa noch einige Zweifel, und da hat er sich eines Abends in der „Krone” Deinen Freund Kroßberg vorgeknöpft, der nebenbei auch ein Pathenkind von Papa ist und zu dem er volles Vertrauen hat. Man habe doch früher mancherlei gehört, was ein schiefes Licht auf Dich werfe — Kroßberg möchte mal reinen Wein einschenken. Das hat er denn auch gethan.”

„Kroßberg! Oh, dieser — —”

„Er hat gesagt, daß Du nur einen Fehler hättest. Und wenn Du irgendwo in einem schiefen Licht ständest, dann läge das an diesem Fehler. Während andere Leute ihre Aventüren zu verschleiern suchten, bildetest Du Dir solche ein und renommirtest sträflich damit. Wenn also dergleichen irgendwo laut würde, so sei das nur auf Deine Aufschneiderei zurückzuführen.”

„Der Kerl ist auch verrückt!” schrie der Rittmeister. „Ihr seid überhaupt alle — —”

Liddie Hirsekorn winkte mit einer pathetischen Handbewegung ab.

„Nur keine Retourkutschen, lieber Vetter — mit denen Du Dich außerdem an der Familie Deiner Braut versündigst. Selbstverständlich hat Papa mit Magda über Deinen „einzigen Fehler” gesprochen. Und nun kannst Du Dir selbst ausmalen, was es für einen Eindruck machen mußte, als Du sogar in der geweihten Stunde, in der Du Magda endlich Dein Herz öffnetest, in Deinen alten häßlichen Fehler verfielst! Es war gräßlich, Erich. Schauderhaft war's. Du kannst mir's glauben, denn ich saß hinter einer dicken Buche und habe jedes Wort gehört. Deine Liebeserklärung an sich war ja sehr hübsch. Wenn mir Jemand eine solche Liebeserklärung machte, ich würde ihm vor Freude in die Waden kneifen. Thatsächlich. Aber in einem solchen heiligen Moment mich mit Renommistereien ankohlen lassen, das würde mir auch nicht gefallen. Das war verdreht. So was läßt sich ein vernünftiger Mensch nur mit aller Gewalt aus der Nase ziehen, nachdem er längst verheirathet ist. Deshalb habe ich an die Stirn getippt und Kameel gesagt. Jetzt weißt Du's.”

Der Rittmeister wollte etwas erwidern, aber er verzichtete darauf. Er lehnte sich gebrochen in seinen Sessel und versank in dumpfes Brüten. Ein fürchterliches Dilemma: Wenn er die Freunde, welche es gut gemeint hatten, dementirte, so setzte er sich dem Eindruck aus, als wolle er an seinem „einzigen Fehler” eigensinnig festhalten. Wenn er sich aber zu diesem Fehler bekannte, so machte er sich lächerlich und verstieß gegen seine guten Vorsätze betreffend Offenheit und Wahrhaftigkeit.

Seine Haltung drückte solche Verzagtheit aus, daß die Kleine ihm endlich tröstend auf die Schulter tippte.

„Laß nur nicht gleich die Nase hängen, Vetter,” sagte sie mit mütterlicher Herzlichkeit. „Ich werde die Sache deichseln. Verlaß Dich darauf. Die Hauptsache ist doch, daß Magda Dich liebt. Das ist der Fall. Und nicht zu knapp.”

„Glaubst Du wirklich, Liddie?” fragte Herr von Plath, indem er beide Hände seiner kleinen Cousine ergriff.

„Thatsache.”

„Und wofür hältst Du mich —?”

„Ich —?” fragte der Schelm, indem er sich losmachte und bis zur Treppe zurückzog. „Ich halte Dich auch für einen Renommisten. Denn wenn Du wirklich der Herzensknacker wärest, für den Du Dich ausgibst, so hättest Du mir längst einen Kuß gemaust!”

Sprach's und wirbelte davon.

— — —